Dreckstück
Doch hier gab es keine Kissen, und er hatte keins mitgenommen. Die Kälte des Bodens kroch an ihren Beinen hinauf, ihre Füße waren bereits taub und gefühllos - dabei war es noch gar nicht so lange her, dass er ihr durch ein leichtes Ziehen an der Hand und einem sanften Druck auf die Schulter deutlich gemacht hatte, wie er sie gern sehen würde. Sie wusste, er saß direkt neben ihr auf dem Stuhl, sein Körper strahlte die bekannte
Wärme aus, und seine Stimme drang an ihr Ohr, während er sich mit anderen unterhielt. Sehen konnte (durfte?) sie ihn heute nicht. Noch Zuhause hatte er ihr die Augen verbunden, sie sollte den heutigen Abend zum Nachdenken nutzen. Doch wie sollte sie in dieser Atmosphäre nachdenken? Er hatte sie wie ein kleines Kind gewaschen und angezogen, wenig mit ihr gesprochen. Ja, er kümmerte sich liebevoll um sie, sorgte dafür, dass sie sich sicher und wohl fühlte in ihrer Kleidung und hatte exakt das ausgesucht, was sie auch angezogen hätte. Dann verband er ihr sorgsam die Augen. In ihrem gemeinsamen Schlafzimmer hieß er sie sich hinzuknien, es raschelte und klapperte leise, als er an den Schrank trat, um etwas herauszunehmen. Scharf stieg ihr der Geruch des Desinfektionssprays in die Nase, noch bevor sie die kalte Nässe auf ihrer Brust spürte. „Ich werde allen zeigen, was Du bist!“ Und die Klinge des Skalpells schnitt sich ihren Weg durch ihre Haut … Seitdem sie an diesem Abend die Dunkelheit erlebte, sprach auch sie wenig, eigentlich nur, wenn er sie ansprach. Sie hätte aufgeregt sein sollen, aber sie war ruhig. Er war bei ihr, und er würde ihr nichts Böses antun oder zulassen, dass dies andere taten.
Die Augenbinde schützte sie vor der Außenwelt, schirmte sie ab und ließ sie mit ihren Gedanken allein. Er hatte sie auf der Party an die Hand genommen und herumgeführt, denn ein Halsband trug sie nicht - was ihr auch ganz recht war. Er hatte sie um jedes Hindernis herumbugsiert, ihr alle Treppenstufen angesagt und war auch sonst sehr aufmerksam, wenngleich auch immer noch schweigsam. Sie lauschte dem Ton seiner Stimme im Gespräch mit dem Pärchen an ihrem Tisch. Über sie jedoch wurde nicht gesprochen. Vorsichtig versuchte sie ihre Zehen in den Schuhen zu bewegen, spürte jedoch nichts. Ihre Hände lagen locker auf ihren Oberschenkeln, doch auch diese fühlten sich fremd und kalt an. Sie atmete tief ein und hob dann ihre linke Hand, tastet, bis die den Ärmel ihres Geliebten fand, und zupfte vorsichtig dran. Nichts. Er unterhielt sich weiter. Er musste es doch gemerkt haben.. Sie zupfte noch einmal. Keine Reaktion. Sie biss sich auf die Lippen und überlegte. Was sollte sie tun? Augenscheinlich wollte er sie nicht bemerken, er wird seine Gründe haben, dachte sie. Doch das würde sie sich nicht gefallen lassen. Außerdem musste sie ihre Beine bewegen. Mit zusammengebissenen Zähnen ließ sie sich nach vorn gleiten, bis sie auf allen Vieren am Boden hockte und das Blut wieder in ihre Beine schoss. Sie stöhnte leise vor Schmerz und biss sich fester auf die Lippen, um nicht laut zu werden. Das Gespräch am Tisch plätscherte weiter vor sich hin, niemand nahm Kenntnis von ihr. Sie verharrte eine Weile in dieser Position, sich nicht bewusst darüber, was sie dem umstehenden Publikum für einen Anblick bot. Ihr kurzer Rock war hinaufgerutscht und entblößte die Strumpfränder, sie trug wie immer keinen Slip - doch mit ihren Gedanken war sie woanders... Warum reagierte er nicht? War sie ihm egal? Oder war es Absicht? Sie vermutete letzteres und schluckte ihre Wut hinunter. Langsam stand sie auf. Da drang auch die Musik wieder an ihr Ohr, leise und pulsierend, dunkel, wie Blut, rannen die Töne in ihre Ohren und tropften wieder hinaus. Sie war orientierungslos, die Musik schien von überall zu kommen, ebenso wie die verschiedenen Stimmen um sie herum und das Lachen der Menschen. Lachten sie über sie? Sie drehte lauschend den Kopf nach links, dann nach rechts, unschlüssig wohin sie sich wenden sollte, hob dann die Hände ein Stück zur Abwehr und machte einige vorsichtige, kleine Schritte nach vorn. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, der Geräuschpegel um sie herum schien einzufrieren, sie fühlte sich allein auf der Welt, obwohl sie inmitten von Menschen stand, die sie hören und riechen konnte. Ihre Fingerspitzen berührten jemanden, zu wenig Zeit, um stehen zu bleiben, sie stolperte und prallte gegen einen fremden Rücken, klammerte sich fest, um Halt zu finden. Sie hatte Glück, sie blieb stehen. Der Rücken drehte sich um und eine Männerstimme fragte merklich verstimmt: „Kannst Du nicht aufpa...“ und verstummte, als er sie sah. „Bitte ... es tut mir leid“ stammelte sie erschrocken und senkte den Kopf. Sie wollte beschwichtigend die Hand heben, doch der Mann schien sich nicht mehr mit ihr befassen zu wollen. Die Luft vor ihr war frei. Langsam ging sie Schritt für Schritt weiter, immer die Hände ein wenig angehoben, um einen Zusammenstoß abzuwehren, doch es schien niemanden zu kümmern. Oft stieß sie gegen einen Körper, hörte Männer- und Frauenstimmen, die ihrem Unwillen kundtaten, wurde gestoßen, geschubst und beschimpft. Irgendwann erreichte sie ein Stahlgitter. Wo war sie? War nicht am Eingang eine Gittertür gewesen? Doch beim Abtasten merkte sie, dass es keine Tür zu sein schien. Da spürte sie von hinten eine Hand in ihrem Rücken, die sie nach vorn drückte. Ihre Wange presste sich gegen das Gitter, und obwohl sie protestierte, hob man ihre Hände und fixierte sie mit Handschellen *klick* am Gitter. Der Schweiß brach ihr aus, sie spürte die feinen Perlen unterm Haaransatz und über der Oberlippe. Vergessen war ihre Wut und ihre große Klappe - was hier passierte, entzog sich ihrer Kontrolle…
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